Donnerstag, 25. Juni 2015

# 4 - Über die Angst vor der Unendlichkeit

Das heutige Buch spielt auf dem komfortablen Ozeandampfer "Virginian", der ständig zwischen der Alten und der Neuen Welt pendelt. Es heißt Novecento, wurde von Alessandro Baricco geschrieben und in der deutschen Ausgabe zum ersten Mal 2000 herausgebracht. Es erzählt von einem Jungen, der im Jahr 1900 auf dem Schiff von  einer unbekannten Passagierin geboren und dort zurückgelassen wird. Im Alter von etwa zehn Tagen wid das namenlose Baby von dem Matrosen Danny Bootman gefunden, als die "Virginian" in Boston vor Anker liegt und sich die Passagiere und fast die ganze Besatzung auf einem Landgang befinden - in einem Pappkarton, der auf dem Klavier im Tanzsaal für die Reisenden der 1. Klasse steht.

Wer ein Kind erwartet und sich Gedanken um dessen Namen macht, bekommt hier Hilfe ;-)

Danny Boodman sucht vergeblich nach einem Hinweis, wie das Kind heißen könnte und findet ihn auf dem Pappkarton: Dort steht deutlich lesbar "T. D. Limoni". Da ist es nur logisch, wie der Knirps heißen soll: Lemon! Und was ist mit "T. D." gemeint? Auch da ist sich Danny sicher: "Thanks, Danny". 

Danny Boodman kümmert sich um das Findelkind, findet aber, dass "Lemon" als alleiniger Name ein bisschen dürftig ist. Was liegt da näher, als ihm seinen eigenen Namen zu geben? Doch er findet diese neue Namensschöpfung immer noch nicht perfekt und fügt das "T. D." hinzu: Danny Boodman T. D. Lemon. Aber weiß nicht jedes Kind, dass erfolgreiche Menschen einen ganz speziellen Namen brauchen, der sie unverwechselbar macht? Eben! Da kommt Danny die Idee: Das Kind soll Novecento (1900) heißen, weil es im Jahr 1900 gefunden wurde.

Wie lebt ein "Schiffsjunge"?

Mehr als acht Jahre lang kümmert sich der Matrose Danny um seinen Ziehsohn Danny Boodman T. D. Lemon Novecento. Als er nach einem Arbeitsunfall stirbt, beschließt der Kapitän der Virginian, Novecento beim nächsten Landgang in Southampton nun endlich in staatliche Obhut zu geben. Bis dahin hatte der Junge noch keinen Fuß auf festen Boden gesetzt. Doch als man ihn holen will, ist er auf dem ganzen Schiff unauffindbar. Erst als der Dampfer erneut in See sticht, taucht er wieder auf: am Klavier im Tanzsaal der 1. Klasse. Er hat eine außergewöhnliche musikalische Begabung und wird irgendwann ein fester Bestandteil der Bordband. Im Laufe der Jahre wird er durch seinen speziellen Stil, Klavier zu spielen, so bekannt, dass sein Name auch Jelly Roll Morton, DEM Jazzmusiker des beginnenden 20. Jahrhunderts, zu Ohren kommt. Er beschließt, sich musikalisch mit Novecento zu duellieren. Da dieser nach wie vor sein Leben komplett auf dem Schiff verbringt, bucht Morton eine Überfahrt nach Europa. Er fordert Novecento im Tanzsaal vor Publikum heraus, doch erst beim dritten Stück zeigt der junge Pianist, welche Virtuosität in ihm steckt: Nach dem letzten Ton lässt er sich eine Zigarette geben und zündet sie an den erhitzten Klaviersaiten an. Morton muss sich geschlagen geben und verlässt das Schiff bei der nächsten Gelegenheit.

Was hält einen Menschen davon ab, ein normales Leben zu leben?

Mit 32 Jahren beschließt Novecento, im Hafen von New York von Bord zu gehen. Zum ersten Mal in seinem Leben. Er will künftig das Meer vom Land aus erleben und als Klavierspieler von Stadt zu Stadt ziehen. Sein Freund, der Trompeter Tim, schenkt ihm einen Kamelhaarmantel, und Novecento wendet sich zum Gehen. Doch schon auf der dritten Stufe hält er inne, wirft prüfend seinen Hut ins Wasser und kehrt wieder um. Niemand weiß, was ihn zum Bleiben bewogen hat, aber Novecento verlässt die Virginian nicht und arbeitet weiter als Bordpianist. Tim kündigt 1933 nach sechs Jahren seine Stelle auf dem Schiff und hört lange Zeit nichts von Novecento.

Eines Tages erhält Tim einen Brief von einem Iren, der früher ebenfalls auf der Virginian angeheuert hatte: Das Schiff war im Krieg als Lazarettschiff eingesetzt und stark beschädigt worden. In Plymouth war der Rest der Besatzung von Bord gegangen und das Schiff mit Dynamit beladen worden, um im offenen Meer gesprengt zu werden. Der Brief endet mit den Worten "Novecento ist an Bord geblieben".
Tim reist sofort nach Plymouth und findet seinen Freund, der im dunklen Schiff auf einer vollen Dynamitkiste sitzt.

Ein Buch mit viel Gefühl

Alessandro Baricco hat dieses Buch mit sehr viel Empathie und Poesie geschrieben. Man mag es zwischendurch nicht aus der Hand legen, weil man in die Handlung hinein gesogen wird. Das Ende wirkt zunächst tragisch, dann aber doch eher versöhnlich.

Den Musiker Jelly Roll Morton hat es im Gegensatz zu Novecento tatsächlich gegeben . Er begann seine Karriere 1902 im Alter von 17 Jahren und gehörte zu den Musikern, die die Entwicklung des Jazz maßgeblich beeinflussten.
Dem Matrosen Danny dämmerte übrigens zwischendurch, dass er mit seiner Deutung von "T. D." auf dem Holzweg war: Irgendwann sah er in einer Zeitung eine Werbeanzeige, in der ein aufgedunsener Mann und eine große Zitrone abgebildet waren. Daneben stand: "Tano Damato, der Zitronenkönig". Aber da war es ihm dann auch egal.

Novecento kommt als Taschenbuch in einer Neuauflage im Oktober 2015 erneut in den Handel. Die mir vorliegende Ausgabe hat nur etwa 80 Seiten und lässt sich daher auch gut "in einem Rutsch" lesen. Es ist ein Buch, das seine Leser nachdenklich macht und das man nach der Lektüre nicht einfach so auf den Bücherstapel zurücklegt. 

Der Film zum Buch kam 1998 unter dem Titel "Die Legende vom Ozeanpianisten" in die deutschen Kinos und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet.