Samstag, 16. März 2024

# 429 - Ein Krimi, der auf das Leben in Japan im beginnenden 20. Jahrhundert blickt

Der bereits 1981 verstorbene Krimi-Autor Seishi Yokomizo ist in Japan sehr bekannt, außerhalb des Landes war er es bis vor Kurzem nicht. Das änderte sich zumindest für den deutschen Buchmarkt, nachdem der Aufbau Verlag 2022 unter seiner Marke Blumenbar die Übersetzung des ersten Teils der Reihe um den Detektiv Kosuke Kindaichi, Die rätselhaften Honjin-Morde, herausbrachte. Das erstmals 1946 erschienene Buch war so erfolgreich, dass Yokomizo noch 76 weitere Male seinen Detektiv durch Japan schickte, um scheinbar unlösbare Kriminalfälle aufzuklären.

Die Handlung spielt im November 1937 in einer ländlichen Gegend in der Präfektur Okayama. Kenzo, der älteste und bereits 40-jährige Sohn einer begüterten Familie, hat am Vortag im kleinen Kreis geheiratet, als die Familie in der Nacht durch schreckliche Schreie geweckt wird. Kurz erklingt das schnelle Anschlagen einer Koto [Anm.: japanisches Saiteninstrument], gefolgt vom Geräusch eines Aufpralls. Als die Familie das vor Kenzos Haus liegende Gartentor gewaltsam öffnen will, sind wieder die Töne einer Koto und kurz darauf ein sirrendes Geräusch, das von einer gerissenen Saite stammen könnte, zu hören.

Die Familie findet Kenzos Haus verschlossen vor. Auf dem Grundstück sind auf dem frisch gefallenen Schnee keine menschlichen Spuren außer ihren eigenen zu sehen - und ein Schwert, das im Schnee steckt. Mithilfe eines Beils verschaffen sich einige der Männer Zutritt zum Gebäude und finden das Brautpaar getötet in einer großen Blutlache vor. Neben der toten Braut Katsuko steht eine blutverschmierte Koto mit einer gerissenen Saite. Außerdem ist ein Wandschirm umgestürzt. Auf ihm befinden sich ebenfalls Blutspuren: Es ist der Abdruck einer Hand zu sehen, allerdings nur des Daumens, des Zeige- sowie des Mittelfingers. Und offenbar hatte sich der Mörder Koto-Plektren über die Finger gestreift. Ist der mysteriöse Fremde, der im Dorf am Tag der Hochzeit nach dem Weg zum Anwesen der Familie gefragt hatte, der Mörder?

Katsukos Onkel, der Teil der Hochzeitsgesellschaft gewesen ist, registriert, dass der anwesende Kriminalkommissar und sein Assistent an ihre Grenzen stoßen und schickt seiner Frau ein Telegramm: Katsuko tot. Schick Kindaichi.
Wird der Privatdetektiv, der Kriminalfälle nur nach logischen Gesichtspunkten löst, es schaffen, auch hinter das Geheimnis dieses Falls zu kommen?

Lesen?

Die rätselhaften Honjin-Morde ist insbesondere für europäische Leserinnen und Leser ungewöhnlich. Nicht nur, dass Seishi Yokomizo hier ein Locked Room Murder Mystery konstruiert und sein Publikum zwischendurch gekonnt in die Irre führt; der Krimi gibt außerdem einen tiefen Einblick in die gesellschaftlichen Regeln und Lebensumstände im Japan der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - eine Welt, die uns kaum fremder sein kann. Wer normalerweise keine Krimis liest, sollte diesen allein deshalb zur Hand nehmen.

Allerdings ist auch Yokomizos Stil etwas gewöhnungsbedürftig, sodass sich sein Krimi nicht durchgehend flüssig lesen lässt. Aber es lohnt sich, am Ball zu bleiben.

Um den Überblick aufgrund der Vielzahl von japanischen Ausdrücken und auftretenden Personen nicht zu verlieren, sind dem Buch ein Personenregister und ein Glossar angefügt.

Die rätselhaften Honjin-Morde ist gebunden für 20 Euro, als Taschenbuch für 12 Euro, als Audio-Download für 14,99 Euro sowie als E-Book für 9,99 Euro erhältlich.

Anmerkung: Honjins waren während der Edo-Zeit Gasthäuser, in denen nur gehobene Regierungsbeamte und Adelige einkehrten. Wer solch einen Gasthof betreiben durfte, stieg sowohl wirtschaftlich als auch sozial auf. Die Familie des getöteten Kenzo betrieb ein Honjin bis zum Sturz des Shoguns und der Wiederherstellung des kaiserlichen Systems Ende der 1860-er Jahre. Diese Zeit bildet die Grundlage ihres Ansehens und Wohlstands.


Samstag, 2. März 2024

# 428 - Ein Essay über die Liebe

Die Philosophin und Journalistin Veronika Fischer war dabei, eine Doktorarbeit über die Liebe zu schreiben. Dann beschloss sie, nicht zu promovieren und den Inhalt der Beinahe-Dissertation so umzuschreiben, dass er sich als Sachbuch eignet, das auch von Nicht-Philosophen verstanden wird. So entstand Liebe.

Das ist ihr zweifellos gelungen. Beim Lesen erwischt man sich dabei, immer wieder zustimmend mit dem Kopf zu nicken oder über die eine oder andere Aussage nachzudenken. Fischer macht schon zu Beginn deutlich, wie inflationär mit dem im Grunde sehr intimen Begriff "Liebe" umgegangen wird. Ist das Kribbeln im Bauch und der Gefühlsrausch am Beginn einer Beziehung schon Liebe? Oder ist es eine Vorstufe, also die Verliebtheit? Und wie ist das, wenn sich langjährige Freundschaften nach und nach in Liebesbeziehungen verwandeln, ohne dass es vorher die Phase der Verliebtheit gegeben hat?

Fischer zieht zahlreiche Quellen wie Philosophen, Schriftsteller oder Musiker heran, um zu ergründen, was es mit der Liebe auf sich hat. Für die Überlegung, ob es sich bei der Liebe um ein Gefühl handelt, hilft möglicherweise die Definition des Wörterbuches der Philosophie weiter, denn es heißt hier, dass man unter einem Gefühl eine "nicht dem Willen unterliegende, körperlich-seelische Reaktion eines Individuums auf die Inhalte seines Erlebens" versteht. So ganz passt das nicht auf die Liebe.

Vorsicht ist geboten, wenn man auf der Suche nach klugen Ratgebern, die sich in der Vergangenheit bereits über die Liebe Gedanken gemacht haben, auf solche stößt, die außer salbungsvollen Worten nichts Hilfreiches zum Thema zu bieten haben. Beispielhaft sei der französische Schriftsteller Stendhal genannt, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jahrelang eine verheiratete politische Aktivistin liebte, aber von ihr nie erhört wurde. Stendhal hat die Dame nie berührt und die in seinem Inneren mit ihr geführten Gespräche nie in der Realität umgesetzt. Er hatte sein Leben lang keine Liebesbeziehung, weswegen Fischer ihn mit einem mittelalterlichen Minnesänger vergleicht. Wie sollte er etwas Sinnvolles über die Liebe sagen können, wenn er nur das Stadium des Verliebtseins kannte?

Veronika Fischer nähert sich der Liebe von mehreren Seiten und es wird deutlich, was wir schon ahnten: Es ist nicht immer alles eitel Sonnenschein, sondern eine Liebesbeziehung basiert auch darauf, dass man an ihr arbeitet und - schöne Grüße an Paare, die sich nur noch anschweigen - miteinander kommuniziert.

Die meisten Überlegungen, die Fischer in Liebe anstellt, sind nachvollziehbar. Einige Stellen fand ich jedoch irritierend, zum Beispiel die Aussage, dass in Liebesbeziehungen nicht automatisch Liebe im Spiel ist. Die Begründung hat mich leider nicht überzeugt.
Auch die Passage, in der es heißt, dass "in vielen anderen Kulturen [...] arrangierte Ehen ein fester Bestandteil der Liebespraxis (sind), bei deren Nicht-Befolgung ein Verstoßen aus der Gemeinschaft droht", ließ mich ratlos zurück. 

Lesen?

Liebe ist ein lesenswerter Exkurs in ein Thema, über das wohl schon nachgedacht wird, seitdem Menschen Sätze formen können. Dem Text ist zwar manchmal anzumerken, dass seine Autorin mit ihm ursprünglich etwas anderes vor hatte, den für wissenschaftliche Arbeiten verwendeten sprachlichen Duktus vermeidet Fischer jedoch. Manche Aussagen werden jedoch nicht weiter vertieft und bleiben einfach im Raum stehen. Da wäre an einigen Stellen mehr möglich gewesen.

Liebe ist 2024 im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen und kostet als Hardcover-Ausgabe 20 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.


Dienstag, 27. Februar 2024

# 427 - Der Schiffskoch und der Ziegenbock

Ich wollte eigentlich nur in unseren örtlichen Buchladen, um ein Geschenk zu kaufen. Als ich hatte, was ich gesucht habe, fiel mein Blick auf dieses schmale Buch: Der Schiffskoch von Methijs Deen. Der Roman hat nur rd. 100 Seiten, aber die haben es in sich.

Bis auf wenige Szenen spielt sich die Handlung auf dem Feuerschiff "Texel" ab, das vor Den Helder in Nordholland liegt. Die Mannschaft bleibt vier Wochen ununterbrochen an Bord, bevor sie von der nächsten Crew abgelöst wird. Das Leben auf der "Texel", die keinen Meter zurücklegt, ist öde. Auf solch einem Schiff, das weder eine Schraube noch ein Ruder hat, geht es darum, die Funktionen eines Leuchtturms zu übernehmen, wo es nicht möglich ist, einen aufzustellen. Die Mahlzeiten des Schiffskochs Lammert sind der einzige Lichtblick und retten die Männer vor der Verzweiflung.

Eines Tages beschließt Lammert, etwas ganz Besonderes zu kochen: Gulai kambing, einen indonesischen Schmortopf mit dem Fleisch eines jungen Ziegenbocks. Lammert schmuggelt das Tier verbotenerweise in seinem Rucksack an Bord und plant, es demnächst zu schlachten. Aber wie das so ist mit Plänen: Trotz Lammerts Hinweis, dem Böckchen auf keinen Fall einen Namen zu geben, wird es zu einem unterhaltsamen Teil der Besatzung. Es gewöhnt sich schnell an das schwankende Schiff und entwischt dem Koch, wenn der es fangen will. Und die Crew gewöhnt sich an das Böckchen.

Doch Lammerts Plan, ein leckeres Gulai kambing zu kochen, wird durch ein weiteres Problem verhindert: Der Koch hatte sich als Kind mit Malaria infiziert. Seitdem kehren immer wieder heftige Fieberschübe zurück. Als es Lammert besonders schlecht geht und er in seiner Koje intensive Fieberträume hat, zieht dichter Nebel auf, der die "Texel" und alle anderen Schiffe in der Umgebung praktisch unsichtbar macht. Das Feuerschiff muss ununterbrochen mit Leuchtfeuer und Nebelhorn auf sich aufmerksam machen, um nicht selbst von vorbeifahrenden Frachtschiffen, die deutlich größer sind, gerammt zu werden. 

Lammert nimmt das Dröhnen der Nebelhörner ebenso wahr wie das Rennen und Rufen der Mannschaft an Deck. Doch alles vermischt sich mit seinen traumatischen Erinnerungen an das Leben im Lager auf Java, als er noch ein kleiner Junge war. Was damals in seiner Kindheit passierte, ist tief in seiner Seele vergraben und bricht während seiner Krankentage in der Kajüte hervor. Eines Tages wurde dem kleinen Lammert gesagt, dass sein Vater nicht mehr wiederkommen würde. Wo er war, das wurde ihm nicht erklärt. Und dann ist da noch eine andere Erinnerung: 
"[...] und sie haben Mutter eingesperrt, und jeden Tag gehen sie dort hinein, und dann hört er sie schreien, und dann schreit er selbst auch, aber seine Tante, wo ist sein Vater, seine Tante, die keine richtige Tante ist, nimmt ihn fest in den Arm und streicht ihm über den Kopf, [...]."


Lesen?

Der Schiffskoch hat mich überrascht, weil in diesem kurzen Roman mehr steckt, als ich erwartet hatte.
Mathijs Deen schildert plastisch, wie es ist, auf engem Raum zusammenleben zu müssen und von anderen nicht ernst genommen zu werden, weil man auf einem Schiff arbeitet, das nie vom Fleck kommt.

Als es zu einem Todesfall kommt, der möglicherweise hätte verhindert werden können, zeigt sich, wie wenig die Männer trotz der räumlichen Nähe voneinander wissen. Als er von Kriminalbeamten befragt wird, antwortet der Maschinist zutreffend: 
"Was weiß man denn wirklich von jemand anderem?"

Mathijs Deen spielt in seinem Roman auf historische Ereignisse an, die der Schiffskoch in seinen Fieberträumen immer wieder durchlebt: Die Insel Java war Teil der niederländischen Kolonie Niederländisch-Indien und wurde im März 1942 im Rahmen des Pazifikkrieges in Südostasien von japanischen Truppen überfallen und eingenommen. Die dort lebenden Niederländer wurden in Lager gesperrt oder getötet, viele Frauen vergewaltigt - eine Parallele, die praktisch alle Kriege gemeinsam haben.

Das Feuerschiff "Texel" war tatsächlich im Einsatz. Wer sich für seine Geschichte interessiert, kann sie hier nachlesen. Es kann heute im Museumhaven Willemsoord besichtigt werden.

Der Schiffskoch ist 2021 als gebundene Ausgabe im mareverlag Hamburg zum Preis von 18 Euro erschienen. Ein Jahr später erschien das Buch in  einer Broschurausgabe für 11 Euro im Insel Verlag.

Freitag, 9. Februar 2024

# 426 - Hass und Liebe während der "Troubles" in Nordirland

Louise Kennedy hat mit Übertretung ihren ersten
Roman veröffentlicht - im dafür ungewöhnlichen Alter von 56 Jahren. Sie wuchs in der Nähe von Belfast auf und hat die auch als "Troubles" bezeichneten bürgerkriegsähnlichen Zustände während des Nordirlandkonflikts, um die es in ihrem Buch geht, aus erster Hand erlebt.

Belfast, 1975: Die 24-jährige Grundschullehrerin Cushla Lavery lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter Gina zusammen und hilft häufig im Pub ihres Bruders Eamonn aus. Der Pub befindet sich in einem Stadtteil, der überwiegend von Protestanten bewohnt wird, die Laverys sind allerdings Katholiken. Das ist mitten im Nordirland-Konflikt, in dem trotz der vereinbarten Waffenruhe täglich Attentate von beiden Seiten verübt werden, nicht einfach. Katholisch zu sein ist dort eine Sache, es zu zeigen eine andere und in dieser Gegend keine gute Idee. Niemand ist davor geschützt, nicht Opfer eines Anschlags zu werden. Wer nicht hinterrücks in seinem Haus erschossen werden will, zieht mit Einbruch der Dunkelheit die Vorhänge vor die Fenster. Schon ein geringes Fehlverhalten von pro-britischen Protestanten oder pro-irischen Katholiken kann zu einer Eskalation führen.

Cushla ist mit ganzem Herzen Lehrerin und nimmt wahr, wie belastend die ständige Gewalt um sie herum für ihre Schülerinnen und Schüler ist. Am meisten haben Kinder aus sogenannten Mischehen zu leiden, bei denen ein Elternteil katholisch und das andere protestantisch ist. Das erfährt auch der kleine Davey McGeown, dessen Klassenlehrerin Cushla ist. Sein Vater wird eines Tages derart zusammengeschlagen, dass ihn die massiven Verletzungen zu einem lebenslang behinderten Mann machen, der seine Familie nicht mehr ernähren kann. Um Davey kümmert sich Cushla besonders.

Cushla lernt während ihrer Arbeit im Pub den Prozessanwalt Michael Agnew kennen. Der Jurist ist Protestant, verheiratet, Vater eines Sohnes und etwa doppelt so alt wie die junge Frau. Er ist in Nordirland sehr bekannt, weil er vor allem Menschen verteidigt, die wegen politischer Delikte angeklagt sind. Ihre Konfession ist Michael egal. Es gibt somit genügend Gründe, zu ihm Abstand zu halten. Eigentlich. Doch zwischen Cushla und Michael beginnt eine leidenschaftliche Beziehung, die strikt geheim gehalten werden muss. Sie ahnen nicht, dass sie schon bald ins Visier genommen werden. Über ihnen braut sich ein Unheil zusammen, das sich in einem dramatischen Ereignis entlädt.

Lesen?

Mit Übertretung ist Louise Kennedy ein Roman gelungen, der seine Leserinnen und Leser in den Nordirland-Konflikt, der seit dem Brexit auf kleiner Flamme wieder aufgelebt ist, eintauchen lässt. Mit der verbotenen Liebe zwischen Cushla und Michael transportiert sie die damalige brisante Stimmung in Nordirland und zeigt, wie sehr der Hass das Leben der Menschen bestimmte und Menschlichkeit und Mitgefühl abschaffte.

Kennedy beleuchtet auch, inwieweit die Kirche durch ihren Einfluss auf die Bevölkerung den Konflikt befeuerte und hier in Gestalt des widerwärtigen Paters Flatterly Öl ins Feuer goss. Der Roman ist spannend geschrieben, sodass man ihn kaum aus der Hand legen mag.

Leider sind in der von mir gelesenen E-Book-Erstausgabe etliche Fehler beim Korrekturlesen übersehen worden. Das ist sehr schade, ändert aber nichts am guten Eindruck des Werks.

Übertretung ist 2023 im Steidl Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 25 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.

Freitag, 2. Februar 2024

# 425 - Ein Familiengeheimnis wird entschlüsselt

Matilda war zum letzten Mal vor zwanzig Jahren im Haus ihrer Großmutter Enni am Bodensee. Doch Enni ist vor Kurzem gestorben, und Matilda hat gemeinsam mit ihrer Schwester deren Haus geerbt. Matildas Mutter, Ennis Tochter, hat das Erbe ausgeschlagen. Sie wollte nichts mehr von ihrer Mutter, mit der sie seit Jahrzehnten kein Wort mehr gewechselt hatte, haben. Der Graben zwischen ihnen war offenbar zu tief.

Rike Richstein schickt ihre Protagonistin in ihrem Roman Die Farben des Sees für eine Auszeit an den Bodensee, die Matilda helfen soll, die Trennung von ihrem Freund zu überwinden. Als sie sich in Ruhe im Haus umsieht, stellt sie fest, wie wenig sie über ihre Großmutter wusste. Die Besuche bei ihr fanden damals, als sie noch ein Kind war, ein abruptes Ende. Warum, das hat ihr nie jemand erklärt.

Und dann stößt Matilda im Nachttisch ihrer Großmutter auf das Foto eines jungen Mannes, der nicht ihr verstorbener Großvater ist. Um wen handelt es sich und warum ist dieser Mann für Enni offenbar so wichtig gewesen, dass sie dieses Bild aufbewahrt hat?

Mit einer Mischung aus Neugier und dem Versuch, sich vom eigenen Kummer abzulenken, macht sich Matilda auf die Suche nach einer Antwort. Doch sie hätte nicht gedacht, dass sie am Ende ihrer Nachforschungen ein Familiengeheimnis aufdecken würde, das eine Erklärung für einige Ungereimtheiten, die Matilda im Laufe der Jahre aufgefallen sind, ist.

Lesen?

Die Farben des Sees verknüpft eine besondere Familiengeschichte mit der Atmosphäre des Bodensees, dessen Farben immer wieder anders sind und von einer Person beschrieben werden, die sich erst nach und nach als diejenige herausstellt, die ohne es zu wollen außerhalb der Familie steht.

Mir hätte das Buch noch besser gefallen, wenn die einzelnen Figuren etwas genauer herausgearbeitet geworden wären. So weiß man zum Beispiel von Matilda kaum mehr, als dass sie um das Zerbrechen ihrer Beziehung trauert und ein enges Verhältnis zu ihrer Schwester hat.

Etwas kurios ist, dass ich im Buchtext auch bei einer zweiten Durchsicht keinen Hinweis darauf gefunden habe, dass es sich bei dem beschriebenen Gewässer um den Bodensee handelt. Es ist die Rede von einem See, über den eine Fähre fährt und in dessen Nähe Berge sind. Das trifft jedoch nicht nur auf den Bodensee zu. Die einzige konkrete Benennung findet sich im Klappentext. Immerhin.

Die Farben des Sees ist 2024 im Verlag Friedr. Stadtler Konstanz erschienen und kostet als gebundene Ausgabe mit Lesebändchen 22 Euro.

Sonntag, 28. Januar 2024

# 424 - Reinhold Beckmann: Zwei Kriege löschten beinahe seine Familie aus

Reinhold Beckmann ist der breiten Öffentlichkeit vor
allem als TV-Moderator und Fußballkommentator bekannt. In großen Abständen veröffentlicht er jedoch auch Bücher, die sich mit dem Blick in die Vergangenheit beschäftigen. In seinen Titeln Zufall? und Erzähl doch mal von früher - Loki Schmidt im Gespräch mit Reinhold Beckmann ging es immer um die Leben bekannter Persönlichkeiten, die mit seinem eigenen nichts zu tun hatten.

Das ist mit seinem neuesten Buch Aenne und ihre Brüder: Die Geschichte meiner Mutter völlig anders. Beckmann erzählt die Lebensgeschichte seiner Mutter, die 2019 im Alter von 98 Jahren verstarb. Ihr Leben war geprägt durch Entbehrungen, Krankheiten und Todesfälle, die im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen standen.

Der Zwillingsbruder ihres Vater litt seit seiner Rückkehr aus dem 1. Weltkrieg, wo er gemeinsam mit Aennes Vater im Stellungskrieg gegen Frankreich an der Front gewesen war, an einem hartnäckigen Husten. Als Aenne am 1. August 1921 in Wellingholzhausen, heute ein Ortsteil von Melle in Niedersachsen, als Schwester von drei Brüdern geboren wurde, besuchte der stolze Onkel seine Schwägerin und seine Nichte. 

Unwissentlich steckte Aennes Onkel sie und ihre Mutter mit Tuberkulose an, an der er kurz darauf verstarb. Nur knapp acht Wochen später war auch die Mutter tot. Aenne überlebte die Krankheit knapp. Beide Todesfälle stehen in einem Zusammenhang zum Weltkrieg.

Mit fünf Jahren wurde Aenne zur Vollwaise. Sie wird drei Brüder, eine Halbschwester sowie einen Stiefbruder haben. Alle vier Brüder kommen im 2. Weltkrieg ums Leben. Reinhold Beckmann spürt seinen Onkeln, die starben, bevor sie ihre eigenen Träume leben konnten, mithilfe von Feldpostbriefen nach, die ihm seine Mutter kurz vor ihrem Tod übergeben hatte. In ihnen spiegelt sich das ganze Elend im Leben der Frontsoldaten wider. Der Jüngste, Stiefbruder Willi, wird kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag zum Volkssturm, dem letzten Aufgebot, das den "Endsieg" bringen soll, eingezogen.

Reinhold Beckmann bettet die Geschichte der durch die Weltkriege so sehr strapazierten Familie inhaltlich in drei Teile ein: Da sind die Brüder mit ihrer Angst vor dem Tod und der immerwährenden Hoffnung, dass alles doch noch ein gutes Ende nimmt; da ist Aennes Leben in Wellingholzhausen und ihren Arbeitsstellen in der näheren Umgebung, einschließlich der Schilderung, wie sich die dortige Bevölkerung und insbesondere die Repräsentanten der katholischen Kirche angesichts der wachsenden Bedrohung durch Nationalsozialismus und Krieg verhalten haben; und schließlich ist da Beckmanns Beschreibung der historischen politischen Ereignisse und Kriegsverläufe, mit denen er seine Familiengeschichte einrahmt.

Lesen?

Es gibt viele Familien wie die Beckmanns, in denen eine ganze Generation von Söhnen ausgelöscht wurde, weil der "Führer" auf Gedeih und Verderb sein Ziel von einer Weltmacht Deutschland durchsetzen wollte. In einer Kultur des Schweigens haben allerdings viele Nachfahren nur wenig Wissen über die näheren Umstände, unter denen man im "Dritten Reich" lebte. Das Thema totzuschweigen, war viel zu oft die Regel. Beckmanns Buch lässt das Schicksal seiner Angehörigen nah an die Leserinnen und Leser heranrücken und macht es begreifbar. Durch das wörtliche Zitieren der Feldpostbriefe der drei ältesten Brüder wird es noch authentischer. Kurz: Lest es.

Aenne und ihre Brüder: Die Geschichte meiner Mutter ist 2023 im Propyläen Verlag erschienen und kostet als Hardcover-Ausgabe 26 Euro sowie als E-Book 21,99 Euro.



Montag, 22. Januar 2024

# 423 - Der Struwwelhitler - eine Parodie neu aufgelegt

Dieses Buch ist in der Originalausgabe zum ersten Mal bereits 1941 in Großbritannien erschienen. Es trug wie die spätere deutsche Fassung den Titel Struwwelhitler - A Nazi Story Book. Als Autor wurde ein "Doktor Schrecklichkeit" angegeben, aber tatsächlich steckten die Brüder Philip und Robert Spence hinter der Parodie auf den Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann. Sie gehörten zu den besten Illustratoren ihrer Zeit. Hier haben sie sich jedoch nicht auf das Zeichnen beschränkt, sondern auch für die - manchmal etwas holprigen - Verse gesorgt.

Die Figuren und Handlungen sind Hoffmanns Werk entlehnt: Außer Adolf ist da zum Beispiel anstelle von Paulinchen mit den Streichhölzern das Gretchen mit der Hakenkreuz-Armbinde, das ihre Katzen mit Kanonenschüssen erschreckt, denn: 

"Ich schieße jetzt, mir ist 'ne Last
der Frieden in der Nachbarschaft!"

Man ahnt, welches Ende es mit dem schießenden Gretchen nimmt.

Der Struwwelhitler war der Beitrag der Spence-Brüder zum "Daily Sketch War Relief Fund" und sollte mit seinen Übertreibungen und dem britischen Humor Hitler und sein Regime lächerlich machen. Großbritannien fühlte sich von der Übermacht des Deutschen Reiches bedrängt, und die englischen Truppen sowie die Opfer von deutschen Luftangriffen sollten mit dieser Persiflage neue Zuversicht und Hoffnung schöpfen.
Das Buch war von Anfang an ein großer Erfolg.

Lesen?

Struwwelhitler - A Nazi Story Book enthält einige
Anspielungen auf Personen und Ereignisse, die in der Zeit des Zweiten Weltkriegs Einfluss auf das Schicksal Europas hatten. Ein paar Geschichtskenntnisse sind also hilfreich, um die Verse zu verstehen. Die Spence-Brüder haben es verstanden, sich der für ihr Heimatland bedrohlichen Situation mit britischem Humor zu nähern, sodass das Buch auch mehr als achtzig Jahre nach dem Erscheinen der Erstausgabe lesenswert ist.

Der Autorenhaus Verlag Berlin hat den Struwwelhitler erstmals 2005 mit der deutschen Übersetzung herausgebracht. Der mir vorliegende Nachdruck stammt aus dem Jahr 2018. Der Historiker Joachim Fest, der durch seine Hitler-Biografie und mehrere Bücher über den Nationalsozialismus bekannt wurde, hat das sehr interessante Vorwort geschrieben, in dem er den Struwwelhitler in den historischen Kontext einordnet.

Das Buch wird als Klappenbroschur angeboten und kostet 10 Euro.

Freitag, 12. Januar 2024

# 422 - Wer will Inklusion und wer eher nicht?

Ich bin jetzt endlich dazu gekommen, Wer Inklusion
will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.
 
von Raúl Aguayo-Krauthausen zu lesen. Schon aus persönlichem Interesse wollte ich wissen, was einer der bekanntesten Behindertenaktivisten Deutschlands zu diesem Thema zu sagen hat.

Der Buchtitel sticht nicht gerade durch seine Knappheit hervor, drückt aber genau das aus, was Krauthausen und zahllose andere Menschen mit Behinderung praktisch täglich erleben. Es geht ihm jedoch nicht nur um Barrieren, denen auch Nicht-Behinderte begegnen können: Treppen oder schwierige Einstiege in öffentliche Verkehrsmittel stellen beispielsweise auch alle, die einen Kinderwagen schieben, vor Probleme. Er beschreibt in drei Kapiteln das "große Ganze", was das Leben von Behinderten in Deutschland ausmacht.

Es wird schnell deutlich, dass ein Leben mit einer Behinderung ebenso facettenreich ist wie das ohne. Wer im Alltag keinen Kontakt zu behinderten Menschen hat, der mag überrascht sein, dass sich die Problematik nicht nur um die Berollbarkeit von Wegen und Gebäuden dreht, sondern auch um Wünsche und Bedürfnisse, deren Erfüllung für Nicht-Behinderte ganz selbstverständlich ist: Inklusion findet zum Beispiel in Schulen oder bei der Berufswahl zu oft nicht oder nur eingeschränkt statt. Sehr vielen Behinderten wird außerdem keine Chance gegeben, möglichst selbstbestimmt zu wohnen oder ihre Sexualität auszuleben. Fürsorge wird dann schnell zur Bevormundung. Bestimmte Arten der Fürsorge haben außerdem einen finanziellen Aspekt, der sich für zahlreiche behinderte Menschen nachteilig auswirkt.

Krauthausen belässt es nicht bei einer Kritik des Status Quo, sondern beschäftigt sich ausführlich mit der Frage, wie sich die Inklusion von behinderten Menschen erreichen lässt. Es gibt noch einiges zu tun, aber er zitiert den spanischen Dichter Antonio Machado mit einem Satz, der auch für andere Themenfelder passt: "Wege entstehen dadurch, dass man sie geht."

Lesen?

Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden. sollte auch oder gerade von Menschen gelesen werden, die sich mit der Inklusion von Behinderten bislang nicht oder nur wenig beschäftigt haben. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass vieles in diesem Buch bei Leserinnen und Lesern einen "Aha-Effekt" auslöst und damit zum Verständnis beiträgt.
Mehrere Interviews mit Expertinnen und Experten - z. B. einer Sachverständigen für barrierefreies Bauen oder dem Vater eines Kindes mit Downsyndrom - runden den Inhalt ab.

Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden. ist 2023 bei Rowohlt Polaris erschienen und kostet als Paperback 17 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.


Sonntag, 10. Dezember 2023

# 421 - Die Karriere einer Frau unterm Hakenkreuz

Es ist das Jahr 1999. Die 91-jährige Witwe Klara Erfurt
lebt allein in ihrem Reihenhaus irgendwo in Norddeutschland. Als ihr eine ihrer Töchter erzählt, dass ihre Enkelin schwanger ist und das Kind allein großziehen will, wirft diese Nachricht die alte Dame in die Vergangenheit zurück. Sie beschließt, ihre Erinnerungen nicht mehr für sich zu behalten und auch über Dinge zu sprechen, die sie ihrer Familie bislang verschwiegen hat.

Alexa Hennig von Lange hat mehr als 130 Tonbandkassetten abgehört, die ihre Großmutter im hohen Alter mit ihren Lebenserinnerungen besprochen hat. Die karierten Mädchen ist der erste Teil einer Trilogie, der den Zeitraum von 1929 bis etwa Mitte der 1930-er Jahre umfasst.

1929: Klara ist Lehrerin und froh, inmitten der Wirtschaftskrise eine Stelle in der Kinderheilstätte Oranienbaum im Freistaat Anhalt bekommen zu haben. Das Heim kümmert sich sowohl um die Pflege lungenkranker Kinder als auch die Ausbildung junger Mädchen in der Haushaltsführung. 
Klara fühlt sich dort wohl und genießt sowohl die Freiheit als auch die neuen Herausforderungen. 

1932 erkrankt die Heimleiterin Fräulein Martin und verstirbt. Mehrmals hatte sie Klara gegenüber ihre Sorge über die politische Entwicklung in Deutschland geäußert, aber Klara, die sich nicht für Politik interessiert und keine Zeitung liest, hatte die Bedeutung dieser Warnungen nicht nachvollziehen können - oder wollen.

Kurz vor Fräulein Martins Tod wird von der Fürsorgerin die einjährige Tolla Lewitan in das Heim gebracht. Deren jüdische Mutter will das Kind nur für kurze Zeit abgeben, doch dann erfährt Klara, dass die Frau sich das Leben genommen hat. Klara, die jeden Monat ihre fast mittellosen Eltern unterstützt, beschließt spontan, für das Mädchen zu sorgen. Doch das Kinderheim befindet sich in einer finanziellen Schieflage. Klara hat die Leitung der Einrichtung übernommen. Die einzige Rettung, die sie erkennt, ist die Übernahme des Hauses durch die nationalsozialistische Regierung. Als Klara endlich realisiert, dass die Nationalsozialisten alle Juden und alles Jüdische ausmerzen wollen, begreift sie, in welchem Dilemma sie sich befindet. Kurzentschlossen verbrennt sie Tollas Geburtsurkunde, um deren Herkunft zu verschleiern, und gibt sie als ihre Tochter aus.

Die Landesregierung will aus dem Kinderheim eine Vorzeigeeinrichtung machen und sie so umgestalten, wie "der Führer" sich diese vorstellt. Die Erziehung soll nach nationalsozialistischen Prinzipien erfolgen, die Kleidung der Mädchen einheitlich sein: karierte Kleider im Dirndlstil.

Als sie während einer Zugfahrt den etwas jüngeren Gustav kennenlernt, bekommt ihr Leben allmählich eine etwas andere Richtung. Der junge Mann ist ihr eine große Stütze. Doch die Situation wird für Klara als Tollas "Mutter" immer bedrohlicher und sie fasst einen Entschluss, der ihr Leben und vor allem das des Mädchens völlig verändert.

Lesen?

Alexa Hennig von Lange merkt in ihrem Nachwort an, dass ihre Großmutter in ihren Aufzeichnungen Ereignisse wie zum Beispiel den Brandanschlag auf die Wörlitzer Synagoge ausließ. Der Ort ist nur wenige Minuten von Oranienbaum entfernt, es kann ihr nicht entgangen sein. Ihr Entsetzen über den Brand der Dessauer Synagoge, den Klara zufällig miterlebt, schildert sie hingegen. Warum hat die Großmutter hier einen Unterschied gemacht? 

Die auf Tonbandkassetten gebannten Erinnerungen offenbaren hier einen großen Unterschied zu einem Interview: Nachfragen sind nicht möglich. Hennig von Lange musste mit dem leben, was sie vorfand. Ihr im Nachwort formulierter Wunsch, mit ihrer Großmutter ins Gespräch zu kommen, kann über die Aufzeichnungen nicht erfüllt werden.

Die Figur des Mädchens Tolla hat die Autorin allerdings hinzugefügt. Sie begründet das so: "Ich wollte den Schmerz erfahrbar machen, der entsteht, wenn ein Mensch, eine ganze Gesellschaft sich gegen die Menschlichkeit wendet. [...] Allein ins Ungewisse fortgeschickt, symbolisiert es [Anm.: das Mädchen Tolla] für mich den Verlust der Unschuld."

Die karierten Mädchen ist eine interessante Umsetzung eines deutschen Lebens während der Nazi-Diktatur, aber es bleiben Fragen offen. Alexa Hennig von Lange beschreibt die politische Naivität ihrer Großmutter, ob deren Vorbehalte gegenüber den Nationalsozialisten jedoch tatsächlich so groß waren, kann wohl nicht mehr beantwortet werden.

Die karierten Mädchen ist 2022 im DuMont Buchverlag erschienen und kostet als Hardcover 22 Euro, als Taschenbuch 13 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro. 

Sonntag, 3. Dezember 2023

# 420 - Rezitativ - Ein Spiel mit Erwartungen

1983 erschien mit Recitatif die einzige Erzählung der
späteren Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison in einer Anthologie. Erst in diesem Jahr wurde die deutsche Übersetzung unter dem Titel Rezitativ herausgegeben.

Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, und die von Roberta war krank. Darum wurden wir ins St. Bonny's gebracht.

Das ist der Einstieg in die Erzählung, und er stammt von der achtjährigen Twyla, der mit der gleichaltrigen Roberta ein gemeinsames Zimmer in einem Kinderheim zugewiesen wird. Schon in dieser Einleitung liegt eine große Tragik: Die beiden Mädchen müssen ihre Zuhause nicht deshalb verlassen, weil sie Waisen wären, sondern weil man sich dort nicht um sie kümmern kann.

Morrison stellt schnell klar, dass eines der Mädchen weiß und das andere schwarz ist. Es bleibt jedoch unklar, welchem Kind sie welche Hautfarbe zuweist. Aber ist das denn wichtig? Morrisons Spiel mit vermeintlichen Hinweisen hat etwas Entlarvendes: Sie hält ihren Leserinnen und Lesern den Spiegel vor, indem sie demonstriert, wie viele Vorurteile diese gegenüber den Menschen mit der einen oder anderen Hautfarbe (mutmaßlich) haben.

Roberta und Twyla bilden im Kinderheim so etwas wie eine Notgemeinschaft. Die anderen Mädchen sind schon länger im Heim und älter als sie, sodass die beiden versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen, um nicht zu Mobbingopfern zu werden.

Doch dann ereignet sich etwas, was Roberta und Twyla zunächst unwichtig finden. Die Küchenhilfe Maggie stürzt im Obstgarten des Heims. Maggie hat starke O-Beine und kann nicht sprechen. Sie ist ohnehin Zielscheibe des Spotts der großen Mädchen, aber an diesem Tag wird sie von ihnen ausgelacht. Aus Angst vor den älteren Mädchen trauen sich Twyla und Roberta nicht, der Frau auf die Beine zu helfen.

Als die beiden Mädchen kurz nacheinander das Heim verlassen und zu ihren Müttern zurückkehren, verlieren sie sich sofort aus den Augen. Aber im Laufe der Jahre begegnen sie sich mehrmals zufällig, und immer steht das Ereignis um die Küchenhilfe Maggie zwischen ihnen: Die nun erwachsenen Frauen erinnern sich ganz unterschiedlich an das, was nach deren Sturz geschah und machen sich gegenseitig Vorwürfe.

Doch nicht nur die Erinnerung an die Zeit im Heim trennt sie, sondern ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Schichten, die ihnen schon damals in St. Bonny's aufgefallen ist. Aus der Not-Freundschaft von einst entwickelt sich eine ambivalente Bekanntschaft, die zum Schluss um die Frage kreist, ob Maggie schwarz oder weiß gewesen ist.

Lesen?

Im von Zadie Smith stammenden Nachwort beschreibt die britische Schriftstellerin, dass sie sich beim Lesen von Rezitativ ebenfalls af die Suche nach "eindeutigen" Hinweisen auf die jeweilige Hautfarbe von Roberta und Twyla begeben hat und gescheitert ist.
"Wir hören Twyla sprechen, und wir hören Roberta sprechen, und obwohl sie sich klar voneinander unterscheiden, sind wir doch nicht in der Lage, den einen Unterschied zu entdecken, den wir eigentlich entdecken wollen", gibt sie zu.

Auch der Versuch, anhand der Beschreibung der Mütter der Mädchen zu einem Ergebnis zu kommen, scheitert. Smith' Schlussfolgerung ist eine Einladung, ebenfalls zu versuchen herauszufinden, welches der beiden Mädchen eine schwarze bzw. weiße Hautfarbe hat:
"Rezitativ ruft mir in Erinnerung, dass es keine wesenhaft schwarze oder weiße Qualität ist, arm zu sein, unterdrückt, unbedeutend, ausgebeutet, missachtet."

Rezitativ ist 2023 in der Übersetzung von Tanja Handels im Rowohlt Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 20 Euro sowie als E-Book 17,99 Euro.